ERDGESCHOSS

  UNTERWEGS IN MÜNSTERS UNTERGRUND | EIN SEMINARPROJEKT AM INSTITUT FÜR KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT | UNIVERSITÄT MÜNSTER

GRAFFITI   -01

   

HAWERKAMP  -02

   

 FLASHMOBS  -03

     
Gesellschaftspiel: Flashmobs in Münster

KELLERBANDS  -04

     

AASEE  -05

     

RADSTATION  -06

     
 

BESTATTER  -07

   
 

TRESORRAUM  -08

   
 

TIEFGARAGE   -09

   
 

KANALISATION  -10

   
BUNKER  -11      
 
TEAM  -12    
 
IMPRESSUM  -13    
 
     TEXT: KALLE KILIAN, VIDEO: IMPROVEVERYWHERE.COM  
         

Es ist ein sonniger Sommernachmittag in Münster, kurz vor 17 Uhr. Hunderte Menschen kommen gerade von der Arbeit und wollen ihren Feierabend genießen. Viele von ihnen sind mit dem Auto unterwegs nach Hause und müssen auf ihrem Weg durch den Ludgerikreisel, einen der größten Kreisverkehre von Münster. Klar, da kann es schon mal voll werden. Aber man braucht meistens nur ein bisschen Geduld – kurz warten, ein paar mal hupen und nach einer Minute ist man durch. Zumindest ist das sonst so. Heute ist es anders. Irgendetwas liegt in der Luft. Man hat das Gefühl, dass es ruhiger ist als sonst. Nur gute Beobachter oder Eingeweihte können die Stativ-Kameras erspähen, die in den Fenstern der umliegenden Hochhäuser aufgestellt worden sind. Dann ist es soweit. Um Punkt 17 Uhr ertönt eine Signalhupe und dann kommen die Fahrräder.

Aus jeder Einfahrt des Kreisels fährt eine Meute von jungen Leuten, scheinbar unbeteiligt, aber dennoch sehr zielstrebig und forsch in den Kreisel, um darin wie selbstverständlich Runden zu drehen. Binnen weniger Sekunden füllt sich der gesamte Kreisel mit rund 300 Leezen
 so heißen in Münster die Fahrräder. Und dennoch, von Chaos keine Spur. Die Autos im Kreisel sind gefangen. Es gibt keinen Ausweg für sie, ohne einen Unfall zu provozieren. Der Verkehr auf den fünf Zufahrtsstraßen beginnt sich zu stauen, aber auch hier besteht keine Chance auf ein Durchkommen. Dennoch wirkt alles sehr gemütlich. Das Hupen des Feierabendverkehrs ist verstummt. Autofahrer und Passanten bestaunen ungläubig die Szenerie. Die Radler drehen in aller Ruhe ihre Kreise. Blickt man ihnen in die Gesichter, merkt man nichts von der Anspannung und Vorfreude, mit der sie dieser Aktion entgegengefiebert haben. Betont lässig fahren sie zu Hunderten ganz gemächlich ihre Runden. Und dann, nach einigen Minuten der vollkommenen Verkehrsblockade, verschwinden die Radfahrer wie auf ein stummes Zeichen wieder. Alle gleichzeitig, alle in verschiedene Richtungen. Innerhalb weniger Sekunden ist der Kreisel wieder in der Hand der verdutzten Autofahrer.

„Eine Superaktion! Das war ein Flashmob von seiner besten Seite“ freut sich Leo. Er studiert Medizin in Münster, ist 22 Jahre alt und einer der Initiatoren der Aktion. Die Idee, einen Flashmob im größten Kreisverkehr Münsters zu organisieren, ist ihm zusammen mit einem Freund auf einer Party gekommen. Gehört hat er schon vorher von solchen Aktionen, aber dass er selbst ein derartiges Event organisieren könnte, damit hatte er vor einigen Wochen noch nicht gerechnet. „Es war eigentlich ganz einfach. Wir hatten die Idee, haben eine Studi-VZ-Gruppe gegründet und in wenigen Wochen per Mund- oder besser per Internetpropaganda über 100 Leute zusammen gehabt.“ Das Studi-VZ ist eine deutsche Internet-Community, in der Studenten und junge Leute Kontakte knüpfen und pflegen können.

Damit beschreibt er ein wesentliches Merkmal der Flashmob-Bewegung. Die Organisation basiert auf moderner Technik. Ob über Mobiltelefone oder im Internet – ohne Technik wäre es nicht möglich, Menschenmassen so schnell und so präzise zu koordinieren, wie es der Grundgedanke des Flashmobs beinhaltet. Ein Flashmob (Flash=Blitz; Mob=Menschenauflauf oder lat. Mobilis=beweglich) ist eine
Menschenmenge, die versucht, möglichst spontan und überraschend aus dem Nichts aufzukreuzen, um dann gemeinschaftlich vorher digital abgesprochene, meist völlig sinnfrei erscheinende Dinge zu tun und anschließend genauso schnell wieder zu verschwinden. Das neue „Gesellschaftsspiel“ erfreut sich weltweit wachsender Begeisterung. Jung und alt finden sich zu den merkwürdigsten Aktionen zusammen und schaffen eine stetig wachsende Bewegung mit revolutionärem Grundgedanken und einem großen Potenzial.

Von revolutionärem Gedankengut oder gar politischen Hintergründen der Flashmob-Bewegung war zu Beginn jedoch keine Rede. Der als Erfinder des Flashmobs geltende amerikanische Journalist Bill Wasik initiierte im Jahr 2003 in einem New Yorker Kaufhaus einen Menschenauflauf, der sich gemeinschaftlich um einen Teppich scharte. Die Teilnehmer sagten dem Kaufhauspersonal, dass man sich einen „Liebes-Teppich“ kaufen wolle und die Entscheidung nur zusammen fällen könne.

Auch der Münsteraner Flashmobber Leo hat nur den Spaß im Kopf. „Es ist einfach geil, sich die Leute anzugucken. Die sind so überrascht und wissen meist überhaupt nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Ich habe schon die herrlichsten Gesichter beim Flashmobben gesehen und bekomme regelrechte Lachattacken.“

Eine solche Lachattacke konnte er sich bei der jüngsten Aktion zum Glück verkneifen. Am 7. Juni musste er bei einer Aktion in den „Münster-Arkaden“ für eine Minute absolut still stehen. Den YouTube-Suchergebnissen zufolge ist die „Freeze“-Aktion die populärste Flashmob-Aktion weltweit. Hierbei mischen sich zahlreiche Flashmobber an einem stark frequentierten öffentlichen Platz unter die Leute und erstarren zu einem bestimmten Zeitpunkt mitten in ihrer Bewegung. Besonders spektakulär klappte das Anfang des Jahres, als in der Grand Central Station, New Yorks Hauptbahnhof in Manhatten, rund 200 Menschen in der Halle erstarrten. Diese Aktion war eine von mehreren, die der „ImprovEverywhere“-Gruppe weltweite Aufmerksamkeit schenkte
 –  zumindest im Internet. Auf der Website
www.improveverywhere.com sind zahlreiche spektakuläre Aktionen zu bestaunen, getreu dem Motto „We cause scenes“. Auch diese Gruppe gibt als Motivation den organisierten Spaß an.

Die Aktion in den „Münster-Arkaden“ war ein Selbstläufer. Genau wie Leo hatte Christian auf einer Party die Bier-Idee, einmal selbst einen Flashmob zu organisieren. Da der 34-Jährige Erfahrungen mit Webdesign hatte, war die passende Internetpräsenz
flashmob-ms.de schnell online gestellt. „Ich habe fünf, vielleicht zehn Freunden Bescheid gesagt, dass sie das Ganze weitersagen und mitmachen sollten. Eine Woche später ist die Sache dann total ausgeartet.“ Anfang Juni stellte Christian seine Seite ins Netz und legt die Aktion auf den 7. Juni fest. Innerhalb einer Woche kamen 4.500 Besucher auf seine Seite – am Tag vor der Aktion waren es alleine 1.300. „Ich hatte ein bisschen Angst. Ich wusste ja nicht, was mich da in den Arkaden erwartet. Was ist denn los, wenn da plötzlich 1.000 Menschen hinkommen? Dann steht ja immer noch mein Name auf der Website!“ Das Sicherheitspersonal hatte Christian vorher eingeweiht. Mehr konnte auch er nicht mehr tun. „Die Aktion selbst verlief eigentlich ganz gut – die Leute sind zwar nicht alle gleichzeitig erstarrt, weil irgendwann einfach jemand gepfiffen hat. Und das Ende war auch nicht gleichzeitig – einige Flashmobber haben sogar geklatscht.“

Abschließendes Klatschen nimmt der Aktion viel Wind aus den Segeln. Das geheimnisvolle Etwas, das sich vorher entfaltet, wird dann einfach wegapplaudiert. Trotzdem ist Christian sehr zufrieden mit der Aktion. Es hat Spaß gemacht. Und am Ende waren es doch keine 1.000, sondern nur ca. 150 Menschen. Als Motiv sieht Christian ebenfalls den Spaß an der Sache. „Dass das Volk immer noch aufstehen und sich bewegen kann“ erfreut ihn, wie er im Interview für die Westfälischen Nachrichten anschließend sagt.

Erneut nach seinen Beweggründen gefragt, sagt Leo, dass es natürlich in erster Linie der Spaß sei, der ihn antreibe. Ihn fasziniere aber auch, dass man einander völlig fremde Menschen für eine gemeinsame Aktion organisieren kann. Vom Miteinander- und Gruppengefühl will er dagegen nichts wissen. „Während einer Aktion redest du nicht mit anderen. Ich bin mit 300 Leuten durch den Ludgerikreisel gefahren und kannte niemanden. Mal ein Lächeln vom Nebenmann, aber das war's dann auch. Nach ein paar Minuten gehen alle wieder ihrer Wege und man sieht sich vielleicht nie wieder.“

Nach seiner Vorstellung vom ultimativen Flashmob gefragt erinnert er sich an eine Aktion der US-Musikband Blink 182, die vor einiger Zeit 10.000 US-Dollar gesammelt  und damit einen Obdachlosen überrascht hat. Der Mann wurde in ein Luxus-Restaurant ausgeführt, mit Designer-Kleidung ausgestattet und anschließend bekam er sogar noch ein Auto. Das restliche Geld durfte er auch behalten.

Mit solchen Aktionen, sagt Leo, kann man Flashmobs auf ein anderes Level heben. Wenn in Berlin 10.355 Leute einen Euro geben und sich alle einen Cheeseburger dafür kaufen, warum sollte man mit diesem Geld nicht auch etwas Sinnvolles anstellen. Man könnte bedürftigen Leuten Essen verschaffen, man könnte ganze Häuser bauen. Wenn man die Energie und das Geld, das die Menschen in Flashmobs investieren, in die richtigen Bahnen lenkt, dann kann man damit wirklich etwas bewegen.

Einen Namen gibt es für diese Art von Flashmob auch schon: Smart Mob. Laut Netztheoretiker
Howard Rheingold ermöglicht die mobile Technik neue Formen sozialer Organisation, wie sie in Flashmobs zum Ausdruck kommen. Er hält dies für eine Revolution. Der Trend, Online-Communities wie Facebook oder Studi-VZ zu nutzen, um nicht-virtuelle Aktivitäten zu organisieren, ist aus seiner Sicht demnach erst der Anfang. Aktionen bei denen sich eine Gruppe Menschen vereint, die sich vorher nur aus dem Internet kennt, werden laut Rheingold an Zahl und Einfluss erheblich zunehmen.

Die Idee der intelligent organisierten Menschenmassen gefällt sowohl Leo als auch Christian. Noch halten beide die Bewegung allerdings für zu verspielt. Die Menschen müssen sich erst einmal mit dem Flashmob-Gedanken anfreunden, bevor das ganze eine Stufe weiter gehen kann. Zuerst steht eben der Spaß im Vordergrund.

Doch was passiert, wenn aus Spaß Ernst wird? Sind Menschenmassen, die beispielsweise den Verkehr blockieren, legal? Eine wirklich klare Antwort darauf scheint es nicht zu geben. In Köln wurden im April diesen Jahres bei einer spontanen Verkehrsblockade gegen einige Teilnehmer Strafverfahren wegen Landfriedensbruch und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet. Etwa 1.000 Menschen hatten sich auf dem Kölner Ring zusammengefunden und teilweise auf mitgebrachten Sofas und Liegestühlen mit einer Sitzblockade begonnen, die den Kölner Verkehr stundenlang erheblich behinderte. Wann das Versammlungsgesetz greift, ist allerdings strittig. Gerade der Paragraph „Spontan-Demonstrationen“ besagt, dass eine Demonstration nicht anmeldepflichtig ist, wenn sie spontan einberufen wird und keinen verantwortlichen Leiter hat.

Aber auch innerhalb der Grenzen des Gesetzes lauern Gefahren. Große Angst hat Christian davor, dass sich die falschen Leute an die Spitze von Flashmobs stellen könnten. Leute, die reden können und die manipulieren wollen. „Theoretisch habe ich als Organisator die politischen Fäden dieser Freeze-Aktion in der Hand“ sagt Christian am Ende unseres Gesprächs. „Fakt ist: Ich organisiere das Ding
es kommen 100 Leute und am Ende sage ich den Fernsehleuten, dass die ganze Aktion beispielsweise unter dem Motto 'Verschärfung der Abschiebungsgesetze' stand. Dann haben die 100 Leute für mich unterschrieben ohne das zu wissen oder zu wollen.“

 

 
     
   


 

 

 

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