ERDGESCHOSS

  UNTERWEGS IN MÜNSTERS UNTERGRUND | EIN SEMINARPROJEKT AM INSTITUT FÜR KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT | UNIVERSITÄT MÜNSTER

GRAFFITI   -01

   

HAWERKAMP  -02

   
 

FLASHMOBS  -03

     
Orpheus in Münsters Unterwelt

KELLERBANDS  -04

     

AASEE  -05

     

RADSTATION  -06

     
 

BESTATTER  -07

   
 

TRESORRAUM  -08

   
 

TIEFGARAGE   -09

   

 KANALISATION  -10

   
BUNKER  -11      
 
TEAM  -12    
 
IMPRESSUM  -13    
 
     TEXT UND BILDER: VANESSA VRIELINK  
         

Das Tor zur Unterwelt öffnet sich. Ein Blick in die Tiefe der Erde gewährt Orpheus nur eines: Dunkelheit. Ein sattes, dunkles Schwarz, eine Wand, aus der beißender Gestank emporsteigt. Dumpfe Geräusche erklingen. Nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sind erste Umrisse nackten Betons und die gemauerten Innenwände eines Tunnels zu erahnen. Steigfinger und Keilhaken an den Wänden werden sichtbar. Der Adrenalinpegel steigt, ein pulsierendes Gefühl durchströmt den Körper und lässt den Herzschlag schneller werden.

Doch der Gang in die Unterwelt wird von Orpheus nicht im antiken Griechenland bestritten. Und sie endet auch nicht in Plutons Reich. Dieser Orpheus landet in Münsters Unterwelt, der Kanalisation. Und das Tor zur Unterwelt ist ein Gullydeckel. Orpheus ist eine rund 120 Zentimeter lange High-Tech-Kamera im Wert von 60.000 Euro, die Bilder aus dem Untergrund zur Kanalinspektion liefert.

Das Kanalnetz von Münster ist etwa 1.500 Kilometer lang. Für die Inspektion und Instandhaltung des Netzes ist das Tiefbauamt der Stadt Münster verantwortlich. Die Mitarbeiter sorgen dafür, dass aus Münsters Wasserhähnen das Leitungswasser sprudelt und bedenkenlos getrunken werden kann. Der Toilettengang wird nicht zur Kloakentour, sondern funktioniert einwandfrei. Und auch die Dusche als abkühlende Erfrischung erfreut die Münsteraner mit sauberem Wasser. Sauberkeit und Hygiene des Alltags lassen natürlich schnell vergessen, wie es weiter unten aussieht.

Ein Tastendruck und alles ist weg. Mit dem Drücken der Toilettenspülung ertönt ein leises Surren, bevor die Abwässer blitzartig in die Rohre der Kanalisation eingesogen werden. Ein Automatismus, der die Welt oberhalb des Kanalnetzes sauber hält, während Schmutz und Dreck ins unterirdische Niemandsland verschwinden. Angekommen in den verzweigten Kanalrohren, fließen die Abwässer wegen des geringen Gefälles nur träge dahin. Sorglos losgewordener Müll aus Windeln, Joghurtbechern und einem schleimigen Brei aus Schlamm und Öl hat in der Kanalisation zwar nichts verloren, ist aber dennoch oft anzutreffen. Gerade dieser Abfall beschäftigt die Orpheus-Kamera, da er schwere Schäden im Rohrsystem anrichtet.

Unbändig wuchern Wurzeln in die Rohre, während ätzende Säuren sich in den Zement fressen. Ein beißender Gestank liegt in der unterirdischen Luft. Rudel von Ratten rennen auf der Suche nach Essensresten durch die Kanalrohre aus Zement, Beton und alten Steinmauern. Eine Kloake mit tonnenweise Abfall und schmutzigen Abwässern, die weiter oben kaum bemerkt wird. „Je weniger man von uns hört, desto besser haben wir gearbeitet“, erzählt Willi Achterholt, Bautechniker der Kanalinspektion, und beschreibt damit die verantwortungsvolle Aufgabe des Tiefbauamtes.

Der Abstieg in die Unterwelt ist längst nicht mehr so mühselig wie einst. Dank neuer Software hat High-Tech Einzug in die Kanalisation gehalten. In Zusammenarbeit mit dem Marktführer der Branche wird in Münster Kanalrohrfernsehen gesendet. Orpheus und andere TV-Kameras übertragen gestochen scharfe Bilder und liefern einen exakten Überblick über das Kanalnetz. Dadurch bleibt den Technikern mit Grubenlampen der Weg in die engen Schächte der Kanalrohre erspart. „Man muss es sich so vorstellen, als ob man beim Doktor eine Sonde schluckt, die sich dann durch den Körper schlängelt und Aufnahmen vom Inneren macht“, erklärt Marco Otte, Diplom-Ingenieur und Fachbereichsleiter für den Kanalbetrieb beim Tiefbauamt. In den Kanalrohren, die sich durchschnittliche drei Meter tief unter der Erdoberfläche befinden, wird Orpheus eingesetzt. Blitzlicht und froschäugige Objektive an den Endseiten der Kamera gewährleisten einen Rund-um-Blick. Kein noch so winziger Riss oder unauffälliger Bagatellschaden des Kanals bleibt unentdeckt.

Das „Projekt 2020“ des Tiefbauamtes teilt Münsters Kanalisation in Gebiete innerhalb der Stadtteile ein. Das Jahr 2020 ist nicht nur Zukunftsperspektive, sondern stellt den zeitlichen Rahmen des Konzepts dar, in denen die Kanalinspektionen durchzuführen sind. Jährlich werden mit Orpheus etwa 120 Kilometer Kanalrohre genau untersucht. „Präzise Anweisungen, wie was wann und wo inspiziert werden soll, finden wir in unserer Bibel“, sagt Otte und meint damit die Verordnung zur Selbstüberwachung von Kanalisationen.

Etwa ein halbes Jahr vor Durchführung einer Inspektion werden die zu inspizierenden Kanalrohre vom Tiefbauamt ermittelt, bevor die Ausschreibung des Auftrags eingeleitet wird. Die Arbeiten im Untergrund durch die TV-Kanalinspektion sind sehr kostspielig. Nicht nur die Anschaffungskosten der Einsatzfahrzeuge und Software sind hoch, auch die Instandhaltung hat ihren Preis. Da sich die Unterhaltung durch das Tiefbauamt aus ökonomischer Sicht nicht rentiert, werden externe Unternehmen beauftragt.

Unscheinbar fährt der Kontrollwagen bis zum Einsatzort. Mitarbeiter des Kanalservices steigen in neongelber Berufskleidung mit markanten Reflektoren aus dem Fahrzeug aus. Sie sperren mit rot-weiß-gestreiften Verkehrshütchen den Bereich rund um den Gully weiträumig ab. Die hinteren Türen des Wagens öffnen sich und geben einen Blick auf die Technik frei. Orpheus, eingebettet in viele andere Utensilien, wartet auf seinen Einsatz. Nachdem die Kamera an den Kontrollwagen angeschlossen worden ist, kann sie in den Kanalschacht hinabgelassen werden.

Der Gully wird geöffnet. Langsam bahnt sich Orpheus seinen Weg in die Tiefe. Das ferngesteuerte Kanalauge registriert jeden Schaden, Riss oder Ablagerung in den unterirdischen Rohren. Mit seinen Froschaugen vermisst Orpheus jedes Rohr des Kanals und fotografiert im Sekundentakt. Nichts bleibt verborgen. Gleichzeitig werden die Daten und Bilder über ein Kabel auf die Monitore im Kontrollwagen übertragen. Dadurch gewinnen die Techniker erste Erkenntnisse über den aktuellen Zustand des Kanalrohrs.

Das Innere eines Kontrollfahrzeuges gleicht einer Kommando- und Schaltzentrale. Über verschiedene Monitore und unzählige Schalter kann die eingesetzte Kamera per Mausklick und Hebel im Rohr positioniert und gelenkt werden. Nichts bleibt unentdeckt. Dies wäre fatal: Übersehende Makel an Kanalrohren können Schäden von mehreren hunderttausend Euro verursachen. Diese Haushaltsanschlussleitung sieht jedoch gut aus. Orpheus’ Inspektion hat das gewünscht positive Ergebnis gebracht: Die Bilder aus der Tiefe konnten keinerlei Hinweise auf Schäden ergeben. Somit wird das Kanalrohr in den kommenden 15 Jahren bis zur nächsten Inspektion wieder sich selbst überlassen. Langsam und vorsichtig strebt Orpheus den Weg zurück an die Erdoberfläche an. Geräuschlos nähert er sich dem Tageslicht und lässt Rost, Ratten und Gestank in den unterirdischen Rohren zurück. Seine Aufgabe ist für heute erledigt.

Orpheus gibt einen Einblick in Münsters Unterwelt. Unbestritten ist, dass durch seinen Einsatz die Arbeit deutlich effizienter geworden ist. Statt körperlicher Arbeit in den engen Schächten und in gebückter Haltung, ermöglicht der High-Tech-Einsatz die Inspektion quasi vom Schreibtisch aus. Zudem ist ein Großteil der Münsteraner Kanalisation bei einem Rohrdurchmessern von nur 20 bis 90 Zentimetern nicht begehbar. Orpheus liefert natürlich auch Bilder von diesen Kanalrohren, die sonst nicht untersucht werden konnten.

Die Protokolle, Bilder und Videos aus der Inspektion werden nach Abschluss der Arbeiten dem Tiefbauamt zur Auswertung übergeben. Zurück in den hellen Büroräumen des Stadthauses 3 am Albersloher Weg, werden die Ergebnisse mit dem Kanaldateninformationssystem geprüft. Die Auswertung präsentiert, ob ein Handlungsbedarf überhaupt notwendig ist oder Renovierungs- und Sanierungsmaßnahmen eingeleitet werden müssen.

Der gut funktionierende Kameraeinsatz von Orpheus und Co. hat sich in den letzten Jahren in Münster bewährt, wie Otte feststellt. Das hiesige Kanalisationsnetz ist im bundesweiten Vergleich in recht gutem Zustand und besser platziert als viele andere deutsche Städte. Sich jetzt zurückzulehnen wäre jedoch falsch. Durch die Alterstruktur der Kanalisation kann damit gerechnet werden, dass in spätestens 20 bis 30 Jahren ein erhöhter Sanierungsbedarf besteht. Ohne Orpheus und den High-Tech-Einsatz geht unten mittlerweile nichts mehr.






























Ohne Prävention keine Inspektion





Letzte Vorbereitungen am Technikwagen




Die Schaltzentrale des Kanalrohrfernsehens


 

 
     
   


 

 

 

IMPRESSUM | TEAM | AN DIE OBERFLÄCHE