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Das Tor zur Unterwelt öffnet sich.
Ein Blick in die Tiefe der Erde gewährt Orpheus nur eines: Dunkelheit. Ein
sattes, dunkles Schwarz, eine Wand, aus der
beißender Gestank emporsteigt. Dumpfe Geräusche erklingen. Nachdem sich die
Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sind erste Umrisse nackten Betons und
die gemauerten Innenwände eines Tunnels zu erahnen. Steigfinger und
Keilhaken an den Wänden werden sichtbar. Der Adrenalinpegel steigt, ein
pulsierendes Gefühl durchströmt den Körper und lässt den Herzschlag schneller
werden.
Doch der Gang in die Unterwelt wird von Orpheus nicht im antiken
Griechenland bestritten. Und sie endet auch nicht in Plutons Reich. Dieser
Orpheus landet in Münsters Unterwelt, der Kanalisation. Und das Tor zur Unterwelt ist
ein
Gullydeckel. Orpheus ist eine rund 120 Zentimeter lange High-Tech-Kamera im Wert
von 60.000 Euro, die Bilder aus dem Untergrund zur Kanalinspektion
liefert.
Das Kanalnetz von Münster ist etwa 1.500 Kilometer lang. Für die Inspektion und
Instandhaltung des Netzes ist das Tiefbauamt der Stadt Münster verantwortlich. Die Mitarbeiter sorgen dafür, dass aus Münsters
Wasserhähnen das Leitungswasser sprudelt und bedenkenlos getrunken werden
kann. Der Toilettengang wird nicht zur Kloakentour, sondern funktioniert
einwandfrei. Und auch die Dusche als abkühlende Erfrischung erfreut die
Münsteraner mit sauberem Wasser. Sauberkeit und Hygiene des Alltags lassen
natürlich schnell vergessen, wie es weiter unten aussieht.
Ein Tastendruck und alles ist weg. Mit dem Drücken der Toilettenspülung ertönt ein
leises Surren, bevor die Abwässer blitzartig in die Rohre der Kanalisation
eingesogen werden. Ein Automatismus, der die Welt oberhalb des Kanalnetzes
sauber hält, während Schmutz und Dreck ins unterirdische Niemandsland
verschwinden.
Angekommen in den verzweigten Kanalrohren, fließen die Abwässer wegen des
geringen Gefälles nur träge dahin. Sorglos losgewordener Müll aus Windeln,
Joghurtbechern und einem schleimigen Brei aus Schlamm und Öl hat in der
Kanalisation zwar nichts verloren, ist aber dennoch oft anzutreffen. Gerade
dieser Abfall beschäftigt die Orpheus-Kamera, da er
schwere Schäden im Rohrsystem anrichtet.
Unbändig wuchern Wurzeln in die Rohre, während ätzende Säuren sich in den
Zement fressen. Ein beißender Gestank liegt in der unterirdischen Luft.
Rudel von Ratten rennen auf der Suche nach Essensresten durch die Kanalrohre
aus Zement, Beton und alten Steinmauern. Eine Kloake mit tonnenweise Abfall
und schmutzigen Abwässern, die weiter oben kaum bemerkt wird. „Je weniger
man von uns hört, desto besser haben wir gearbeitet“, erzählt Willi
Achterholt, Bautechniker der Kanalinspektion, und beschreibt damit die
verantwortungsvolle Aufgabe des Tiefbauamtes.
Der Abstieg in die Unterwelt ist längst nicht mehr so mühselig wie einst.
Dank neuer Software hat High-Tech Einzug in die Kanalisation gehalten. In
Zusammenarbeit mit dem Marktführer der Branche wird
in Münster Kanalrohrfernsehen gesendet. Orpheus und andere TV-Kameras
übertragen gestochen scharfe Bilder und liefern einen
exakten Überblick über das Kanalnetz. Dadurch bleibt den Technikern mit
Grubenlampen der Weg in die engen Schächte der Kanalrohre erspart. „Man muss
es sich so vorstellen, als ob man beim Doktor eine Sonde schluckt, die sich
dann durch den Körper schlängelt und Aufnahmen vom Inneren macht“, erklärt
Marco Otte, Diplom-Ingenieur und Fachbereichsleiter für den Kanalbetrieb
beim Tiefbauamt. In den Kanalrohren, die sich durchschnittliche drei Meter tief
unter der Erdoberfläche befinden, wird Orpheus eingesetzt. Blitzlicht und
froschäugige Objektive an den Endseiten der Kamera gewährleisten einen Rund-um-Blick. Kein noch so winziger Riss oder unauffälliger Bagatellschaden
des Kanals bleibt unentdeckt.
Das „Projekt 2020“ des Tiefbauamtes teilt Münsters Kanalisation in
Gebiete innerhalb der Stadtteile ein. Das Jahr 2020 ist nicht nur
Zukunftsperspektive, sondern stellt den zeitlichen Rahmen des Konzepts dar,
in denen die Kanalinspektionen durchzuführen sind. Jährlich werden mit
Orpheus etwa 120 Kilometer Kanalrohre genau untersucht. „Präzise Anweisungen,
wie was wann und wo inspiziert werden soll, finden wir in unserer Bibel“,
sagt Otte und meint damit die Verordnung zur Selbstüberwachung von
Kanalisationen.
Etwa ein halbes Jahr vor Durchführung einer Inspektion werden die zu
inspizierenden Kanalrohre vom Tiefbauamt ermittelt, bevor die Ausschreibung
des Auftrags eingeleitet wird. Die Arbeiten im Untergrund durch die
TV-Kanalinspektion sind sehr kostspielig. Nicht nur die Anschaffungskosten
der Einsatzfahrzeuge und Software sind hoch, auch die Instandhaltung hat
ihren Preis. Da sich die Unterhaltung durch das Tiefbauamt aus
ökonomischer Sicht nicht rentiert, werden externe Unternehmen beauftragt.
Unscheinbar fährt der Kontrollwagen bis zum Einsatzort. Mitarbeiter des
Kanalservices steigen in neongelber Berufskleidung mit markanten Reflektoren
aus dem Fahrzeug aus. Sie sperren mit rot-weiß-gestreiften Verkehrshütchen
den Bereich rund um den Gully weiträumig ab. Die hinteren Türen des Wagens
öffnen sich und geben einen Blick auf die Technik frei. Orpheus,
eingebettet in viele andere Utensilien, wartet auf seinen Einsatz. Nachdem
die Kamera an den Kontrollwagen angeschlossen worden ist, kann sie in den
Kanalschacht hinabgelassen werden.
Der Gully wird geöffnet. Langsam bahnt sich Orpheus seinen Weg in die Tiefe. Das ferngesteuerte Kanalauge
registriert jeden Schaden, Riss oder Ablagerung in den unterirdischen
Rohren. Mit seinen Froschaugen vermisst Orpheus jedes Rohr des Kanals und
fotografiert im Sekundentakt. Nichts bleibt verborgen. Gleichzeitig werden
die Daten und Bilder über ein Kabel auf die Monitore im Kontrollwagen
übertragen. Dadurch gewinnen die Techniker erste Erkenntnisse über den
aktuellen Zustand des Kanalrohrs.
Das Innere eines Kontrollfahrzeuges gleicht einer Kommando- und
Schaltzentrale. Über verschiedene Monitore und unzählige Schalter kann die
eingesetzte Kamera per Mausklick und Hebel im Rohr positioniert und gelenkt
werden. Nichts bleibt unentdeckt. Dies wäre
fatal: Übersehende Makel an Kanalrohren können Schäden von mehreren
hunderttausend Euro verursachen.
Diese Haushaltsanschlussleitung sieht jedoch gut aus. Orpheus’ Inspektion
hat das gewünscht positive Ergebnis gebracht: Die Bilder aus der Tiefe
konnten keinerlei Hinweise auf Schäden ergeben. Somit wird das Kanalrohr in
den kommenden 15 Jahren bis zur nächsten Inspektion wieder sich selbst
überlassen. Langsam und vorsichtig strebt Orpheus den Weg zurück an die
Erdoberfläche an. Geräuschlos nähert er sich dem Tageslicht und
lässt Rost, Ratten und Gestank in den unterirdischen Rohren zurück. Seine
Aufgabe ist für heute erledigt.
Orpheus gibt einen Einblick in Münsters Unterwelt. Unbestritten ist, dass
durch seinen Einsatz die Arbeit deutlich effizienter geworden ist. Statt
körperlicher Arbeit in den engen Schächten und in gebückter
Haltung, ermöglicht der High-Tech-Einsatz die Inspektion quasi vom Schreibtisch
aus. Zudem ist ein Großteil der Münsteraner Kanalisation bei
einem Rohrdurchmessern von nur 20 bis 90 Zentimetern nicht begehbar. Orpheus
liefert natürlich auch Bilder von diesen Kanalrohren, die sonst nicht untersucht werden konnten.
Die Protokolle, Bilder und Videos aus der Inspektion werden nach Abschluss
der Arbeiten dem Tiefbauamt zur Auswertung übergeben. Zurück in den hellen
Büroräumen des Stadthauses 3 am Albersloher Weg, werden die Ergebnisse mit
dem Kanaldateninformationssystem geprüft. Die Auswertung präsentiert, ob ein
Handlungsbedarf überhaupt notwendig ist oder Renovierungs- und
Sanierungsmaßnahmen eingeleitet werden müssen.
Der gut funktionierende Kameraeinsatz von Orpheus und Co. hat sich in den
letzten Jahren in Münster bewährt, wie Otte feststellt. Das hiesige
Kanalisationsnetz ist im bundesweiten Vergleich in recht gutem Zustand und
besser platziert als viele andere deutsche Städte. Sich jetzt zurückzulehnen
wäre jedoch falsch. Durch die
Alterstruktur der Kanalisation kann damit gerechnet werden, dass in spätestens 20 bis 30
Jahren ein erhöhter Sanierungsbedarf besteht. Ohne Orpheus und
den High-Tech-Einsatz geht unten mittlerweile nichts mehr. |
Ohne Prävention keine Inspektion
Letzte Vorbereitungen am
Technikwagen
Die Schaltzentrale des
Kanalrohrfernsehens
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