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Ein betäubender, chemischer Geruch
zieht in die Nase. Er ist ungewohnt, aber nicht unangenehm. Trotzdem tragen
viele Menschen hier Atemschutzmasken. Vor allem diejenigen, die vor den
Wänden stehen. Der Nieselregen bindet die Farbpartikel, die vom Wind durch
die Luft gewirbelt werden, und sammelt sie in immer größer werdenden
Pfützen. Ausgetretene Turnschuhe in bunten Farben lassen erkennen, dass es
sich bei den Vermummten nicht um Sondereinheiten des Seuchenschutzkommandos
handelt. Nein, die Menschen mit den viel zu weiten Kapuzenpullovern und den
medizinischen Handschuhen sind da, um Holzwände mit Sprühfarbe zu bemalen.
Und das möglichst einfallsreich und kunstvoll.
Was seinen Anfang als urbane Subkultur in den Sozialbauvierteln New Yorks
der Siebziger Jahre nahm, findet heute auch seinen Weg bis in das
beschauliche Münster, zum „Write For Gold Deutschland“. Beim größten
Graffiti-Wettbewerb des Jahres messen sich vor dem Skater’s Palace 28 Teams
aus sechs Ländern, von denen zwei den Einzug in das Europa-Finale schaffen
werden. Ganz im Geiste des Community-Gedankens ihrer Szene wird der Gewinner
hauptsächlich durch Bewertungen der Gruppen untereinander ermittelt. Der
Juror spielt nur eine untergeordnete Rolle. Um sein Können unter Beweis zu
stellen, stehen 400 Meter Wandfläche und vier Stunden Zeit zur Verfügung.
Simon Kaspers* ist etwas ungeduldig. Er sprüht mit seiner Crew „HFA“, die
aus dem gesamten Bundesgebiet zusammengekommen ist, unter einer Autobrücke.
Wegen des Regens sammeln sich einige Zuschauer. Was genau an ihrem
„Legends“-Schriftzug noch alles verbessert werden muss, erkennt ein Laie
nicht. Lediglich der subjektive Eindruck, dass das Bild immer kompakter
wirkt, verstärkt sich mit der Zeit. Legends, dieses Mottowort muss jedes
Team sprühen. Ergänzt wird das Gesamtbild durch eine szenische Kulisse, die
den Hintergrund des Schriftzugs bildet. Dazu kommen ein oder mehrere
sogenannte Characters. Das können Überzeichnungen real existierender
Personen, aber auch Fantasiewesen sein. Stefan kann nicht genau sagen, wer
seine Figuren sind. Woanders sieht man sowohl ernst gemeinte Hommagen als
auch ironische Karikaturen. An zwei angrenzenden Wänden treffen Gitarrist
Jimi Hendrix und Alt-Wrestler Hulk Hogan aufeinander. Beide Legenden,
irgendwie.
Ob Graffiti seinen rebellischen Charakter behalten muss, der ihm seit den
Ursprüngen anhaftet? Simon nickt, wirkt das erste Mal nachdrücklich: „Wir
malen auch viel auf Contests, aber das darf nicht alles sein.“ Das Malen,
wie es von allen nur kindlich genannt wird, dürfe nicht kommerzialisiert
werden. Er und seine Sprüherfreunde sähen sich als klare Vertreter einer
Untergrundszene: „Dieser Aspekt ist wichtig und sollte nicht verloren
gehen“. Auch das Gesellschaftskritische? Auch das, bejaht er. Aber man hat
das Gefühl, der Begriff ist mit keiner klar umrissenen Bedeutung gefüllt.
Mit dem Graffiti breche als Aufstand der Zeichen das linguistische Ghetto in
die Stadt ein, sagte einmal der französische Philosoph Jean Baudrillard.
Vielleicht ist es das, was Simon meint. „Es ist mehr als ein Hobby, es ist
immer auch ein Statement“. Er hat keine Zeit, sich weiter Gedanken dazu zu
machen. Der Wettbewerb wartet. Die Zeit läuft. Überall gilt es, noch
Verfeinerungen am Bild vorzunehmen.
Deko hat mehr Zeit. Er sprüht beim „Write For Gold“ einfach so, weil er
eingeladen wurde, weil er einen Namen hat. Der 36-Jährige hat eine eigene
Agentur für Airbrushdesign in Berlin, malt seit 22 Jahren und hat seine
Fähigkeiten auf beinahe jeder international renommierten Veranstaltung unter
Beweis gestellt. Die Kunst ist für ihn zum Geschäft geworden. „Heutzutage
ist es natürlich schon ein leichteres Brot als früher“,
sagt er und grinst dabei. Im Gegensatz zur HFA-Crew um Simon Kaspers geht
der Berliner nicht mehr nachts raus, um Züge zu „bomben“
– so nennen
die Writer das Besprühen von Waggons. „Das ist nichts Illegales mehr für
mich, es ist mein Beruf“, macht Deko klar. Damit dürfte er eher die
Ausnahme sein.
Es bliebe einem gar nichts anderes übrig, als sich zu professionalisieren.
Zu den Kunden seiner Agentur „Time 2 Brush“ zählen heute bekannte
Kleidungshersteller und Musiklabels. Man habe auch schon einige Aufträge für
Aggro Berlin gemacht, derzeit das kontroverseste Independent-Label für
deutschsprachige Rapmusik. „Wir machen neben Modedesign aber auch
Auftragsmalerei und Fassadengestaltung“, beschreibt Deko die Aufgaben seiner
Agentur. Kurzum deckt sie alle Gestaltungsbereiche ab, in denen sich
Graffiti in andere Lebens- und Kunstausrichtung eingliedern lässt.
Die Airbrush-Kunst und das individuelle Besprühen von Turnschuhen und
anderen Kleidungsstücken sind dabei der lukrativste Geschäftszweig. Bei
dieser Technik werden Formen und Schriftzüge des Graffiti mit Sprühfarbe auf
Textilien aufgetragen. Dafür benutzt man allerdings feine Spritzpistolen und
nicht die szenetypischen Dosen, die überall um das Skater’s Palace verstreut
herumstehen. Die Sprüher hier stehen vor Wänden, nicht vor Schuhen. Sie
kriegen keine Bezahlung und sind auf eigene Kosten teilweise über 400
Kilometer angereist. „Immerhin gibt es Sprühdosen als Entschädigung“, grinst
ein Writer, der sich gerade am Kopf von Hip Hop-Pionierin Queen Latifah zu
schaffen macht. Deko selbst war schon mehrmals in der Jury, unter anderem in
Wien und in Tokio. Auch morgen wird er weiter reisen.
Es bleibt die Frage, wo noch Raum für kreative Entwicklung und Experimente
bleibt. „Wir malen teilweise 16 bis 17 Stunden am Tag. Wir sprechen kurz mit
dem Kunden über die Vorstellung und dann wird das einfach gemacht. Man hat
sich den Job ausgesucht und versucht, ihn professionell rüberzubringen“,
erklärt Deko seinen Arbeitsalltag. Er ist in der Woche in ganz Europa
unterwegs und betreut außerdem noch seinen eigenen Laden in
Berlin-Wilmersdorf. Also doch alles nur business as usual?
Als Aktiver der ersten Stunde ist diese Frage natürlich nicht ganz so leicht
zu beantworten, auch wenn man in Wechselbeziehungen mit einer sehr
oberflächlichen Industrie steht. „Mode ist ein gutes Medium, um die Kunst in
eine andere Richtung zu schicken.“ Den Impuls für Dekos Interesse an
Graffiti lieferte damals der Film „Beat Street“ im DDR-Staatsfernsehen. Der
Film spielt in New York und handelt eigentlich von einer besonderen Form des
Tanzens, dem Breakdance. Der Tanz und das Malen ist verknüpft, weil es sich
in gleichen Teilen der Jugendkultur Hip Hop zuordnen lässt, die sich in den
Siebziger Jahren in der Bronx entwickelt hat. Der Film war stilprägend und
beeinflusste eine ganze Generation von Jugendlichen, auch in Deutschland.
Von der Fusion der Elemente Musik, Tanz und Straßenkunst reden viele, wenn
man sie nach Hip Hop fragt. Der definiert sich in den heutigen Medien nur
noch über die Musik. „Die Verknüpfung der Elemente ist wichtig. Es sind
alles Schritte, die aufeinander aufbauen“, erklärt Deko das Zusammenspiel
seiner Kultur.
Da taucht er wieder auf, dieser Begriff. Kultur. Die bewusste Umgestaltung
des eigenen Lebensraumes, aber auch des eigenen Handeln und Denkens.
Vielleicht lebt sie auch dann noch, wenn am Tag 50 Paar Turnschuhe mit
Sprühfarbe bearbeitet werden, um sie einer jugendlichen Käuferschicht mit
der Illusion zu verkaufen, für genau jene diffuse Mischkultur zu stehen.
Vielleicht lebt sie auch bei Veranstaltungen wie dem „Write For Gold“. Oder
wenn Simon Kaspers 150 Euro für Sprühdosen ausgibt, um seinen Künstlernamen
bei einem nächtlichen Streifzug durch die Peripherie seiner Stadt an
irgendeine Fassade zu setzen.
Bei seinem heutigen Werk ist er fast am Ende. Noch einige kleine
Veränderungen müssen vorgenommen werden. Er spricht sich mit seiner Crew ab.
„Es kostet viel Konzentration, solange zu malen,“ meint er. Auch seine Crew
macht hin und wieder Auftragsarbeiten, um sich die teure
Freizeitbeschäftigung leisten zu können. Das Rausgehen nachts sei jedoch
immer noch die größte Herausforderung. Auf die Frage nach seinem
Künstlernamen reagiert Simon das erste Mal mit Skepsis, so als wäre die
Frage nicht unachtsam, sondern hinterhältig gestellt. „Den will ich nicht
sagen“.
Deko sprüht abseits der anderen Crews an einer kahlen Wand des alten
Fabrikgebäudes. Bittet man ihn, die Besonderheit seines Bildes zu erklären,
kommt auch beim Geschäftsmann wieder Begeisterung zum Vorschein: „Es ist die
Mischung aus Ecken und geschwungenen Formen. Ecken bringen Stabilität, die
Rundungen lassen das Bild fließen. Es kommt darauf an, dass das Bild
fließt.“ Dieses Mal ist es der bürgerliche Name, der nicht verraten werden
soll. „Deko. Das reicht. Unter dem Namen kennt mich die ganze Welt“, lacht
der junge Mann mit Baseballkappe und steigt wieder auf seine Leiter.
Nicht nur sein Name, auch Graffiti ist groß geworden, hat die Kinderschuhe
längst verlassen, sich selbst reproduziert und in die ganze Welt getragen,
ist zum gewinnträchtigen Geschäft geworden. Musste man früher in die Bronx
fahren, um sich einen Eindruck zu verschaffen, kann man heute Ateliers und
Ausstellungen im Künstlerviertel Greenwich Village besuchen. Dabei entstand
alles im urbanen Sumpf einer sich entwickelnden Jugendkultur namens Hip Hop,
damals in den Siebzigern. Denn irgendwie gehört das alles schon zusammen,
die Musik, der Tanz und das Malen. Deshalb schließen sich an die
Veranstaltung noch ein Breakdance-Wettbewerb und ein Auftritt der
schwedischen Rapformation Looptroop an. Über das Gelände des „Write For
Gold“ jedenfalls wabern Bässe von Musikkassetten, die so klingen, als wären
sie noch analog aufgenommen worden, wie in den Siebzigern eben. Vielleicht
sollen sie aber auch so klingen.
* Name von der Redaktion geändert. |
Deko* hat die Kunst zum
Beruf gemacht
Die HFA-Crew hofft auf den Sieg
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