ERDGESCHOSS

  UNTERWEGS IN MÜNSTERS UNTERGRUND | EIN SEMINARPROJEKT AM INSTITUT FÜR KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT | UNIVERSITÄT MÜNSTER

 GRAFFITI   -01

 

HAWERKAMP  -02

   
 

FLASHMOBS  -03

     
Write for Gold
Zwischen Subkultur und Kunstgeschäft

KELLERBANDS  -04

     

AASEE  -05

     

RADSTATION  -06

     
 

BESTATTER  -07

   
 

TRESORRAUM  -08

   
 

TIEFGARAGE   -09

   
 

KANALISATION  -10

   
BUNKER  -11      
 
TEAM  -12    
 
IMPRESSUM  -13    
 
     TEXT UND BILDER: PHILIPP LAAGE  
         

Ein betäubender, chemischer Geruch zieht in die Nase. Er ist ungewohnt, aber nicht unangenehm. Trotzdem tragen viele Menschen hier Atemschutzmasken. Vor allem diejenigen, die vor den Wänden stehen. Der Nieselregen bindet die Farbpartikel, die vom Wind durch die Luft gewirbelt werden, und sammelt sie in immer größer werdenden Pfützen. Ausgetretene Turnschuhe in bunten Farben lassen erkennen, dass es sich bei den Vermummten nicht um Sondereinheiten des Seuchenschutzkommandos handelt. Nein, die Menschen mit den viel zu weiten Kapuzenpullovern und den medizinischen Handschuhen sind da, um Holzwände mit Sprühfarbe zu bemalen. Und das möglichst einfallsreich und kunstvoll.

Was seinen Anfang als urbane Subkultur in den Sozialbauvierteln New Yorks der Siebziger Jahre nahm, findet heute auch seinen Weg bis in das beschauliche Münster, zum „Write For Gold Deutschland“. Beim größten Graffiti-Wettbewerb des Jahres messen sich vor dem Skater’s Palace 28 Teams aus sechs Ländern, von denen zwei den Einzug in das Europa-Finale schaffen werden. Ganz im Geiste des Community-Gedankens ihrer Szene wird der Gewinner hauptsächlich durch Bewertungen der Gruppen untereinander ermittelt. Der Juror spielt nur eine untergeordnete Rolle. Um sein Können unter Beweis zu stellen, stehen 400 Meter Wandfläche und vier Stunden Zeit zur Verfügung.

Simon Kaspers* ist etwas ungeduldig. Er sprüht mit seiner Crew „HFA“, die aus dem gesamten Bundesgebiet zusammengekommen ist, unter einer Autobrücke. Wegen des Regens sammeln sich einige Zuschauer. Was genau an ihrem „Legends“-Schriftzug noch alles verbessert werden muss, erkennt ein Laie nicht. Lediglich der subjektive Eindruck, dass das Bild immer kompakter wirkt, verstärkt sich mit der Zeit. Legends, dieses Mottowort muss jedes Team sprühen. Ergänzt wird das Gesamtbild durch eine szenische Kulisse, die den Hintergrund des Schriftzugs bildet. Dazu kommen ein oder mehrere sogenannte Characters. Das können Überzeichnungen real existierender Personen, aber auch Fantasiewesen sein. Stefan kann nicht genau sagen, wer seine Figuren sind. Woanders sieht man sowohl ernst gemeinte Hommagen als auch ironische Karikaturen. An zwei angrenzenden Wänden treffen Gitarrist Jimi Hendrix und Alt-Wrestler Hulk Hogan aufeinander. Beide Legenden, irgendwie.

Ob Graffiti seinen rebellischen Charakter behalten muss, der ihm seit den Ursprüngen anhaftet? Simon nickt, wirkt das erste Mal nachdrücklich: „Wir malen auch viel auf Contests, aber das darf nicht alles sein.“ Das Malen, wie es von allen nur kindlich genannt wird, dürfe nicht kommerzialisiert werden. Er und seine Sprüherfreunde sähen sich als klare Vertreter einer Untergrundszene: „Dieser Aspekt ist wichtig und sollte nicht verloren gehen“. Auch das Gesellschaftskritische? Auch das, bejaht er. Aber man hat das Gefühl, der Begriff ist mit keiner klar umrissenen Bedeutung gefüllt. Mit dem Graffiti breche als Aufstand der Zeichen das linguistische Ghetto in die Stadt ein, sagte einmal der französische Philosoph Jean Baudrillard. Vielleicht ist es das, was Simon meint. „Es ist mehr als ein Hobby, es ist immer auch ein Statement“. Er hat keine Zeit, sich weiter Gedanken dazu zu machen. Der Wettbewerb wartet. Die Zeit läuft. Überall gilt es, noch Verfeinerungen am Bild vorzunehmen.

Deko hat mehr Zeit. Er sprüht beim „Write For Gold“ einfach so, weil er eingeladen wurde, weil er einen Namen hat. Der 36-Jährige hat eine eigene Agentur für Airbrushdesign in Berlin, malt seit 22 Jahren und hat seine Fähigkeiten auf beinahe jeder international renommierten Veranstaltung unter Beweis gestellt. Die Kunst ist für ihn zum Geschäft geworden. „Heutzutage ist es natürlich schon ein leichteres Brot als früher“, sagt er und grinst dabei. Im Gegensatz zur HFA-Crew um Simon Kaspers geht der Berliner nicht mehr nachts raus, um Züge zu „bomben“ so nennen die Writer das Besprühen von Waggons. „Das ist nichts Illegales mehr für mich, es ist mein Beruf“, macht Deko klar. Damit dürfte er eher die Ausnahme sein.

Es bliebe einem gar nichts anderes übrig, als sich zu professionalisieren. Zu den Kunden seiner Agentur „Time 2 Brush“ zählen heute bekannte Kleidungshersteller und Musiklabels. Man habe auch schon einige Aufträge für Aggro Berlin gemacht, derzeit das kontroverseste Independent-Label für deutschsprachige Rapmusik. „Wir machen neben Modedesign aber auch Auftragsmalerei und Fassadengestaltung“, beschreibt Deko die Aufgaben seiner Agentur. Kurzum deckt sie alle Gestaltungsbereiche ab, in denen sich Graffiti in andere Lebens- und Kunstausrichtung eingliedern lässt.

Die Airbrush-Kunst und das individuelle Besprühen von Turnschuhen und anderen Kleidungsstücken sind dabei der lukrativste Geschäftszweig. Bei dieser Technik werden Formen und Schriftzüge des Graffiti mit Sprühfarbe auf Textilien aufgetragen. Dafür benutzt man allerdings feine Spritzpistolen und nicht die szenetypischen Dosen, die überall um das Skater’s Palace verstreut herumstehen. Die Sprüher hier stehen vor Wänden, nicht vor Schuhen. Sie kriegen keine Bezahlung und sind auf eigene Kosten teilweise über 400 Kilometer angereist. „Immerhin gibt es Sprühdosen als Entschädigung“, grinst ein Writer, der sich gerade am Kopf von Hip Hop-Pionierin Queen Latifah zu schaffen macht. Deko selbst war schon mehrmals in der Jury, unter anderem in Wien und in Tokio. Auch morgen wird er weiter reisen.

Es bleibt die Frage, wo noch Raum für kreative Entwicklung und Experimente bleibt. „Wir malen teilweise 16 bis 17 Stunden am Tag. Wir sprechen kurz mit dem Kunden über die Vorstellung und dann wird das einfach gemacht. Man hat sich den Job ausgesucht und versucht, ihn professionell rüberzubringen“, erklärt Deko seinen Arbeitsalltag. Er ist in der Woche in ganz Europa unterwegs und betreut außerdem noch seinen eigenen Laden in Berlin-Wilmersdorf. Also doch alles nur business as usual?

Als Aktiver der ersten Stunde ist diese Frage natürlich nicht ganz so leicht zu beantworten, auch wenn man in Wechselbeziehungen mit einer sehr oberflächlichen Industrie steht. „Mode ist ein gutes Medium, um die Kunst in eine andere Richtung zu schicken.“ Den Impuls für Dekos Interesse an Graffiti lieferte damals der Film „Beat Street“ im DDR-Staatsfernsehen. Der Film spielt in New York und handelt eigentlich von einer besonderen Form des Tanzens, dem Breakdance. Der Tanz und das Malen ist verknüpft, weil es sich in gleichen Teilen der Jugendkultur Hip Hop zuordnen lässt, die sich in den Siebziger Jahren in der Bronx entwickelt hat. Der Film war stilprägend und beeinflusste eine ganze Generation von Jugendlichen, auch in Deutschland. Von der Fusion der Elemente Musik, Tanz und Straßenkunst reden viele, wenn man sie nach Hip Hop fragt. Der definiert sich in den heutigen Medien nur noch über die Musik. „Die Verknüpfung der Elemente ist wichtig. Es sind alles Schritte, die aufeinander aufbauen“, erklärt Deko das Zusammenspiel seiner Kultur.

Da taucht er wieder auf, dieser Begriff. Kultur. Die bewusste Umgestaltung des eigenen Lebensraumes, aber auch des eigenen Handeln und Denkens. Vielleicht lebt sie auch dann noch, wenn am Tag 50 Paar Turnschuhe mit Sprühfarbe bearbeitet werden, um sie einer jugendlichen Käuferschicht mit der Illusion zu verkaufen, für genau jene diffuse Mischkultur zu stehen. Vielleicht lebt sie auch bei Veranstaltungen wie dem „Write For Gold“. Oder wenn Simon Kaspers 150 Euro für Sprühdosen ausgibt, um seinen Künstlernamen bei einem nächtlichen Streifzug durch die Peripherie seiner Stadt an irgendeine Fassade zu setzen.

Bei seinem heutigen Werk ist er fast am Ende. Noch einige kleine Veränderungen müssen vorgenommen werden. Er spricht sich mit seiner Crew ab. „Es kostet viel Konzentration, solange zu malen,“ meint er. Auch seine Crew macht hin und wieder Auftragsarbeiten, um sich die teure Freizeitbeschäftigung leisten zu können. Das Rausgehen nachts sei jedoch immer noch die größte Herausforderung. Auf die Frage nach seinem Künstlernamen reagiert Simon das erste Mal mit Skepsis, so als wäre die Frage nicht unachtsam, sondern hinterhältig gestellt. „Den will ich nicht sagen“.

Deko sprüht abseits der anderen Crews an einer kahlen Wand des alten Fabrikgebäudes. Bittet man ihn, die Besonderheit seines Bildes zu erklären, kommt auch beim Geschäftsmann wieder Begeisterung zum Vorschein: „Es ist die Mischung aus Ecken und geschwungenen Formen. Ecken bringen Stabilität, die Rundungen lassen das Bild fließen. Es kommt darauf an, dass das Bild fließt.“ Dieses Mal ist es der bürgerliche Name, der nicht verraten werden soll. „Deko. Das reicht. Unter dem Namen kennt mich die ganze Welt“, lacht der junge Mann mit Baseballkappe und steigt wieder auf seine Leiter.

Nicht nur sein Name, auch Graffiti ist groß geworden, hat die Kinderschuhe längst verlassen, sich selbst reproduziert und in die ganze Welt getragen, ist zum gewinnträchtigen Geschäft geworden. Musste man früher in die Bronx fahren, um sich einen Eindruck zu verschaffen, kann man heute Ateliers und Ausstellungen im Künstlerviertel Greenwich Village besuchen. Dabei entstand alles im urbanen Sumpf einer sich entwickelnden Jugendkultur namens Hip Hop, damals in den Siebzigern. Denn irgendwie gehört das alles schon zusammen, die Musik, der Tanz und das Malen. Deshalb schließen sich an die Veranstaltung noch ein Breakdance-Wettbewerb und ein Auftritt der schwedischen Rapformation Looptroop an. Über das Gelände des „Write For Gold“ jedenfalls wabern Bässe von Musikkassetten, die so klingen, als wären sie noch analog aufgenommen worden, wie in den Siebzigern eben. Vielleicht sollen sie aber auch so klingen.


* Name von der Redaktion geändert.



Deko* hat die Kunst zum Beruf gemacht




Die HFA-Crew hofft auf den Sieg

 
     
   


 

 

 

IMPRESSUM | TEAM | AN DIE OBERFLÄCHE