AUS DER PYRAMIDE
SOLL EIN POOL WERDEN
Text und Fotos: Gerrit Holz
Ein Reisebus parkt vor dem Institut
für Kernphysik der Uni Münster. Wo angehende Naturwissenschaftler zwischen
Lehrveranstaltungen hin- und herpendeln, steigen jetzt
Ausstellungsbesucher in
kurzen Hosen und Sandalen aus dem
Fahrzeug, um eine große Vertiefung zu begehen
und zu fotografieren: Bruce Naumans quadratische
Senke.
Einige Gruppen von Studenten lassen sich ab Mittag am Rand des Kunstwerkes auf
der Wiese nieder. Mit vollem Magen und in sicherer Distanz zur
Entlüftungsanlage der Mensa, der ein unangenehmer Geruch entströmt,
gestalten die Studierenden ihre Mittagspause in geschwätziger Geselligkeit.
In diesem Sommer wird hier über Kunst gesprochen.
Eine Informationstafel, kaum größer als eine Postkarte, offenbart: Hier gilt
es, „Square Depression“ zu erleben. Die deutsche Übersetzung „quadratische
Senkung“ büßt im Vergleich zum Originaltitel an Zweideutigkeit ein. Wer sich
eloquenter ausdrücken möchte, darf das Werk auch „geomorphologische
Depression“ nennen. Bei der Skulptur, die Bruce Nauman, geboren 1941 in
Fort Wayne (USA), in Münster errichten ließ, handelt sich
schlicht um eine umgekehrte und im
Boden eingelassene
Pyramide.
Nüchtern betrachtet wurde eine Grube ausgehoben, 25 Meter lang und
25 Meter breit, am tiefsten Punkt 2,30 Meter tief. Diese Senke wurde mit
hellgrauem Beton ausgegossen. Vier abschüssige Flächen laufen
nun spitz auf die
Mitte zu. Bereits 1977, zur ersten Ausstellung „Skulptur 77“,
sollte Naumans Werk an dieser Stelle errichtet werden. Dies gelang damals
nicht: technische und finanzielle Probleme durchkreuzten die
Pläne. 30 Jahre später sind alle Schwierigkeiten beseitigt und Naumans Senke
kann zur Ausstellung 2007 endlich realisiert werden.
Im Zentrum des Werks kann genau
eine Person sicher stehen. Diese Position
erreichen Interessierte wie ferngesteuert, wenn sie sich mit dem
Werk auseinandersetzten. Wichtig ist der intendierte Effekt: Als Individuum
in der Mitte des Werkes zu stehen bedeutet, dass Horizont und
Außenwelt aus dem Blickfeld
verschwinden. Die Ränder der umgekehrten Pyramide
sind zu hoch, um noch darüber zu blicken. Das „Draußen“ erscheint fern, man
fühlt sich hilflos. Gleichzeitig
rückt man selbst in den Mittelpunkt des Interesses. Durch Naumans
Organisation des Raumes wird man von diesen zugleich getrennt und von den
Besuchern am Rand wahrgenommen. Wie selbstverständlich werden Fremde in der
Senke von Fremden am Rand fotografiert. Der Besucher wird ausgestellt.
Eher belustigt, kritisch oder aus einer ganz bodenständigen Perspektive
beurteilen Studierende Naumans Skulptur und die Begleitumstände
ihrer
Errichtung.
Menschen halten sich nicht lange auf dem Platz auf.
Fahrräder stehen überall. Teilweise so ungünstig, das
man zum umsichtigen Ausweichen gezwungen ist, will man das Gebäude betreten.
Studentin Katharina Hiepko fühlt sich durch die Skulptur gestört: „Während
der Bauarbeiten war der Zugang zum Institut für Kernphysik bis auf einen
kleinen Weg versperrt. Die Fahrradständer, die vor diesem Gebäude immer
gut belegt waren, wurden abmontiert und sind bis jetzt nicht wieder
angebracht worden. Das Chaos war vorauszusehen. Jeder stellt seine Leeze
dort ab, wo es ihm gerade passt.“
Verschieben Sie den Balken nach rechts oder links und erleben Sie den Blick
aus Naumans „quadratischer Senkung" (Panorama: Gerrit Holz).
Bleiben an Naumans Kunstwerk keine Blicke hängen, wenn Menschen lediglich
vorbei gehen, manchmal hetzen?
Student
Christian Abeling versteht das Konzept des Kunstwerkes durchaus, bezweifelt allerdings die
Wirksamkeit für den Einzelnen: „Weil sich die Chemie- und Physik-Gebäude um
„Square Depression“ herum befinden, hat man vom Zentrum aus immer noch
Fixpunkte. Im Vergleich zu den
Waschbetonklötzen ist die Pyramide in ihrer Wirkung eher ein Witz.“
Von studentischer Seite gibt es noch mehr Kritik:
Die Wiese, die noch
wenige Monate zuvor mit Rollrasen erneuert worden war, sei schöner und
praktischer gewesen. Katharina Hiepko: „Beim Sommerfest der Fachschaft Physik haben
wir hier immer Volleyball gespielt. Da das dieses Jahr nicht ging und wir
auf eine weiter entfernte Wiese ausweichen mussten, ist kein
Gemeinschaftsgefühl entstanden. Grill- und spielbegeisterte Gäste hielten
sich jeweils an unterschiedlichen Ecken des Geländes auf.“
Praktische Wirkungen, an die der Künstler kaum denken konnte.
Was langfristig mit der Skulptur geschehen wird, ist noch offen. Früher
wurden einige Werke von der Stadt Münster gekauft und sind noch heute zu
sehen. Ein berühmtes Beispiel sind Claes Oldenburgs „Giant Pool Balls“ am Aasee
aus dem Jahre 1977, die mittlerweile wie selbstverständlich zum
Stadtbild gehören. Aktuell finden rege Auseinandersetzungen über Naumans
Pyramide im Internet statt. Ein Unterforum der Studenten-Community „StudiVZ“
heißt „Aus der Pyramide soll ein Pool werden!“. Etwa 200 Mitglieder können
hier – stets mit virtuellem Augenzwinkern – über alternative
Verwendungsmöglichkeiten diskutieren. Vom extrem großen Schwenkgrill über
die Errichtung eines Beachvolleyball-Feldes bis hin zum Pool mit Liegewiese
werden Ideen ausgetauscht, die wohl nicht im Sinne des
Erfinders sind.
Immerhin sorgen sie für seichten Gesprächsstoff.
Nach differenzierten Beurteilungen muss nicht lange gefragt werden. So
entwickelt sich ein Disput zwischen den Studenten
Ingmar Schnell und Valentin Kemper. Sonst sind die beiden beim Durchrechnen
von Aufgabenblättern schnell einer Meinung. Nicht so beim
Thema Kunst. Valentin legt Wert darauf, dass jedes Kunstwerk eine
Chance verdient habe. Die vorschnelle Verurteilung durch die Kommilitonen
habe ihn von Anfang an gestört: „Jeder hat nur davon gesprochen, dass
‚unsere Wiese’ aufgerissen wird. Der Effekt, wenn man in der Pyramide steht,
ist zwar nicht überwältigend. Aber wenn man sich diesem Perspektivenwechsel
unvoreingenommen stellt und darüber nachdenkt, so kann man Naumans Arbeit
durchaus schätzen lernen. Wenn man „Square Depression“ Ernst nehmen will, so
geht das über Introspektion und Reflexion, nicht über den Wow-Effekt, den
viele erwarten.“ Schnell bezweifelt, dass die verkehrte Pyramide gründlich verstanden werden
kann: „Die Leute sehen das doch nur von außen, die Nachricht nimmt kaum
jemand wahr.“
„Ich glaube, die Wirkung wäre viel stärker, wenn man das Kunstwerk
beispielsweise im Schlossgarten der Uni errichtet hätte. Die ablenkenden Einflüsse
durch die Umgebung wären dort sicher geringer. Die Besucher würden das
ganze viel bedächtiger und würdevoller behandeln“, sagt eine
Studentin. Der Trubel um „Square
Depression“ werde sich bald legen.
Sollte kein Bautrupp anrücken und neuen
Rollrasen verlegen, so werde man Naumans Exponat eben langfristig lieb
gewinnen.
Gerrit Holz, geboren 1986,
studiert nach Abitur und einem einjährigen Freiwilligendienst in der
Kulturarbeit Kommunikationswissenschaft und Soziologie an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster. Dank der Beschäftigung mit
„Skulptur Projekte 2007“ hat er erlebt, dass Außergewöhnliches nur Kunst
ist, wenn es wie Kunst behandelt wird. |
Orientierungsbedürfnis am Rand, Gelassenheit im Zentrum
Für diese Benennung dürfen Besucher dankbar sein.
Für die Übersetzung wohl weniger.
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