POLITISCHE KUNST:
KARL MARX, PAUL WULF
UND ZERQUETSCHTE
FIGUREN
Text und Foto: Felix Montag
Mit Angelschnüren oder bunten
Panzern versuchen Künstler, im Rahmen der „Skulptur Projekte“ in
Münster politische Themen anzusprechen. Mal sind die Anspielungen sehr
weit hergeholt, mal springen sie den Betrachtern ins
Auge. Wie
reagieren die Besucher auf die Skulpturen?
Es wäre eine echte Attraktion geworden: Der
Litauer Deimantas Narkevičius wollte den Karl-Marx-Kopf aus Chemnitz für die
Dauer der „Skulptur Projekte“ nach Münster holen. Mit dieser Aktion
hatte er geplant, eine politische Diskussion um die Statue des kommunistischen
Denkers anzuregen. Doch
Barbara Ludwig, Oberbürgermeisterin
von Chemnitz,
stellte sich quer. Ihren 40-Tonner „Nischel“, wie der Kopf im Volksmund
genannt wird,
wollte sie nicht hergeben. Auch die Errichtung einer
Replik in Münster lehnte sie ab. Wer wirklich Interesse an
der Statue habe, der „muss nach Chemnitz kommen“. Damit
war ein
Aufsehen erregendes Projekt unter großer Medienbeachtung
geplatzt, doch politisch relevant wollen auch andere
der ausgestellten Skulpturen sein.
Sehr abstrakt gestaltet etwa der britischen Künstler Mark Wallinger seine
politische Aussage. Er spannt eine Angelschnur hoch über den Köpfen der
Menschen. Die fast unsichtbare Schnur verläuft von Haus zu Haus,
einmal um die
gesamte Innenstadt herum, mehr als fünf Kilometer lang. Damit will er auf eine
bunte Mischung an Fragestellungen anspielen. Neben Bewegungsgrenzen für
orthodoxe Juden am Sabbat möchte er unter anderem auf die Ghettobildung in
Städten aufmerksam machen.
Ein politischer Dialog über das Thema Ghetto scheint bei Betrachtern aber
nur zögerlich in Gang zu kommen, wenn sie die weiße Schnur betrachten.
„Ghetto?“, fragt Thomas, 22-jähriger BWL-Student, überrascht. „Ich finde,
diese schwebende Schnur hat eher was Leichtes, Befreiendes.“ Auch Judith,
die extra nach Münster gekommen ist, um sich die „Skulptur Projekte“
anzusehen, runzelt die Stirn: „Wenn mir niemand gesagt hätte, dass die da
oben verläuft, hätte ich die gar nicht bemerkt. Aber
ein Ghetto kann ich jetzt auch nicht entdecken.“
Vielleicht klarer als die Angelschnur stellt der in bunten Farben bemalte Panzer an
der Aegidiistraße einen Bezug zwischen Politik und Kunst
her. Zwar ist der Macher des Panzers laut einer
Sprecherin der „Skulptur Projekte“
nur ein „Trittbrettfahrer“, der
offiziell nicht zu den Projekten gehört. Er schart trotzdem Leute um sich
und lockt sie nebenbei in das Café Gasolin, auf dessen Terrasse er steht
und das bereits in früheren Ausstellungen Kunst zeigte. Karl, etwa 40
Jahre alt, mit weißen Haaren und rustikaler Kleidung, betrachtet das
Kriegsfahrzeug eingehend: „Das steht für ‚Make Love, not War’ oder so. Man
hat ein bisschen das Gefühl, alles wird doch noch gut.“
Bunte Gesichter sind auf dem Stahl zu sehen, auch Schlagwörter wie Liebe,
Freiheit und Frieden. Aus dem Kanonenrohr kommen Seifenblasen, fliegen über
die Straße. Als Karl entdeckt, dass die untere
Hälfte des Kriegsfahrzeugs in schwarzweiß gehalten ist und mit
Daten der Weltkriege oder Massengräbern bemalt ist, zögert er: „Das rüttelt
auf.“
Der Panzer wird in verschiedenen Orten in Deutschland ausgestellt. Demnächst
wird er auf der Documenta in Kassel zu sehen sein. Er ist eine Idee des
Dresdner Kunstförderers Arne Nowak und soll darauf hinweisen, dass Panzer
keinen Frieden schaffen können. „Ja, dass Panzer für den Krieg und nicht für
den Frieden sind, wusste ich auch“, kommentiert Susanne, die auf der
Terrasse einen Kaffee trinkt. „Dafür hätte ich das jetzt
nicht extra gebraucht, aber sieht doch ganz lustig aus mit den Luftblasen.“
Silke Wagner hat mitten in der Stadt eine dreieinhalb Meter große Statue von
Paul Wulf aufgestellt. Wie ein Mahnmal steht der steinerne Wulf am
Straßenrand und starrt durch seine riesige Brille
in Richtung Prinzipalmarkt.
Zwei Kinder im Grundschulalter stehen vor der Statue, fassen sie an und
bestaunen sie. Die Mutter der Kinder erklärt ihnen die Bedeutung. „Paul
Wulf wurde von den Nazis sterilisiert, weil die den für behindert gehalten
haben. Nach dem Krieg hat er ganz lange gegen den Staat geklagt, weil er
eine Entschädigung dafür verlangte.“ Auch eine
Zusammenfassung.
Der Körper der Statue wird als Litfasssäule verwendet. Auf ihm sind Fotos von
Wulf und Kopien von Dokumenten aus der Zeit des
Nationalsozialismus zu sehen, auf denen die
Zwangssterilisierung angeordnet wird. Im Laufe der „Skulptur Projekte“ wird
der Körper noch weiteren Dokumentationen über Gegenbewegungen Raum bieten.
Es wird um Häuserbesetzer und Atomkraftgegner gehen.
Als die Mutter mit ihren Kindern weiter gegangen ist, kommen ein paar
Mädchen und posieren neben der Statue. Sie
kauen Kaugummi, eine Freundin fotografiert. Die Teenager lachen, tauschen
die Plätze. Zwei legen ihre Arme um den Körper wie um einen Freund.
Weiter geht es zum
Erbdrostenhof weiter östlich, in dessen
dreieckigem Hof „der öffentliche Raum im Zeitalter der Privatisierung“
dargestellt wird. In dem Hof stehen eine Müllpresse der Stadt Münster und
eine bunte, vier Meter hohe Kugel. Aus der Kugel ragen Köpfe und Beine von
Kunststofftieren heraus. Ein Touristenführer
erklärt einer Gruppe Kunstinteressierter, wie das Werk zu verstehen sei.
„Die Figuren, meist bunt bemalte oder mit Werbung versehene Tiere, finden
sich in hunderten Städten Deutschlands. Vielleicht haben sie das schon mal
gesehen, in Berlin zum Beispiel haben sie überall Bären stehen, manchmal mit
Werbung von McDonalds.“ Der Künstler Andreas Siekmann
hat 13 dieser Plastikfiguren gekauft, in einer Müllpresse
zerquetscht und aus ihren Überresten eine Kugel geformt. „Er findet nicht, dass die Tiere schön sind. Er weist darauf
hin, dass der öffentliche Standort der Figuren durch Werbung privatisiert
wird“, erläutert der Gruppenleiter weiter. Entlang der Mauer und im Gebäude
finden sich
zahlreiche weitere Bilder und Texte. Sie beschreiben detailliert, wie
Privatisierung heute funktioniert. Die Gruppe läuft geschlossen die Mauer
entlang. Dort werden die verschiedenen Mechanismen der Privatisierung anhand
von Piktogrammen erläutert. „Die erzählen ja alle kleine Geschichten“,
flüstert eine junge Frau. Zwei Piktogramm-Männchen reichen sich die Hände.
Eines überreicht dem anderen einen Koffer. „Aber man braucht schon das
Glossar, um die alle zu verstehen“, grübelt die Frau weiter. Nicht ohne
Grund liegen im Saal des Erbdrostenhofes mehrere Hefter aus, in denen auf
elf Seiten die einzelnen Phänomene des Themas erklärt werden.
Und Narkevičius? Wenn schon nicht in Stein, wollte der Künstler den
Karl-Marx-Kopf wenigstens auf der Leinwand nach Münster bringen. In einer
Halle des Landschaftsverband Westfalen-Lippe an der Fürstenbergstraße wird
eine fünfminütige Dokumentation nonstop abgespielt. Zehn Stühle stehen in
der Mitte einer dunklen Halle. Auf den Stühlen sitzen einige Japaner mit
dicken schwarzen Kopfhörern auf den Ohren, aus denen eine sonore Stimme aus
dem Off spricht. Sie starren gebannt auf die Leinwand. Dort sagt ein
kleiner Junge auf Litauisch, dass sein Bruder sein Vorbild sei,
weil er der beste Fußballer der Mannschaft ist. Ein vielleicht zehnjähriges
Mädchen erklärt, dass sie gerne Ärztin werden will. Es werden noch mehr
Kinder gezeigt, später formen sie Figuren aus Lehm. Eine litauische
Stadt in den Siebzigern wird gezeigt.
Schließlich tritt der Schöpfer des Karl-Marx-Kopfes auf. Lew Jefimowitsch
Kerbel, der 2003 verstorbene Professor und hoch dekorierte Künstler der
Sowjetunion, bittet den Zuschauer in sein Haus. Im Vorgarten steht eine
Miniaturausgabe des Nischels. Der Künstler steht in seiner Küche und
plaudert. Zum Abschluss gibt es noch ein paar Schwarzweiß-Ausschnitte von
der Errichtung des Monuments. Hier ist Kerbel jünger und trägt noch keine
Brille. Nachdem der Film schon wieder zwei
Minuten gelaufen ist, erheben sich die Japaner und verlassen den Raum.
Der
Skulpturschock bleibt offenbar aus.
Felix Montag,
geboren 1987, ist Student der Kommunikations-wissenschaft an
der Universität Münster. Neben dem Studium ist er in der studentischen
PR-Initiative „Campus Relations“ sowie dem Hochschulradio Münster, „Radio
Q“, tätig. Montag kommt aus einer künstlerisch aktiven Familie, die meisten
Familienmitglieder malen oder dichten in ihrer Freizeit, einige auch als
Nebenerwerb. Trotzdem
– oder gerade deshalb
– steht Felix Montag den
„Skulptur Projekten“ distanziert gegenüber. Er betrachtet die Skulpturen und
beschreibt ihre Wirkung bei den Menschen. Nur selten erreicht die erklärte
Intention der Künstler seine in Kunstfragen abgestumpfte (oder
sensibilisierte) Wahrnehmung. |
Privatisierter
Schrott
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